Diese Artikel wurde in der norwegischen Tageszeitung Vart Land 17.01.2005 veröffentlicht
Der Vorsitzende des Islamischen Verbunds Norwegens (Det Islamske Forbundet. Wir werden diese Organisation ”DIF” nennen), Basim Ghozlan, war im letzten Herbst im Rampenlicht, weil er in der Öffentlichkeit Selbstmordattentate gegen zivile Juden in Palästina unterstützte. Einige norwegische Oppositionspolitiker reagierten sehr schnell darauf und verlangten politische Sanktionen gegen den DIF. Seitdem hat es rund um dem DIF in den Medien aus mehreren Gründen gegrummelt. Aber von Seiten der Regierung kam keine Reaktion auf Ghozlans Unterstützung von Selbstmordbombern.
Ghozlans Standpunkt in Bezug auf Selbstmordsattentäter steht in Übereinstimmung mit der Majorität von Sunni-muslimischen Führern in der ganzen Welt. Der Standpunkt ist ein Produkt theologisch-politischer Überlegungen, nicht etwa purer Affekt oder Wut, und wir tun gut daran, einen Blick auf dessen ideologisches Fundament zu werfen.
Yusuf al-Quaradawi wird von vielen zu den mächtigsten muslimischen Führern gerechnet, und er ist in jedem Fall der einflussreichste sunnimuslimische Rechtsgelehrte. Er wurde 1926 in Ägypten geboren, aber wegen seiner Mitgliedschaft bei der Muslimischen Brüderschaft wurde er in seinem Heimatland politisch verfolgt und 1961 liess er sich in Qatar nieder. In Europa übt Qaradawi formellen Einfluss als Führer des ‚European Council for Fatwa and Research‘, eine Organisation, die als das offizielle Sprachrohr der Sunnimuslime in Europa gelten möchte, und er ist der oberste fachliche Führer für das ‚European Institute of Human Sciences‘, Europas grösstes Ausbildungszenturm für Imame in Frankreich. Aber vor allem ist Qaradawi wichtig, weil die meisten Sunnimuslime seine Autorität in Lehrfragen anerkennen.
Der Leiter des ‚Institutes of Islamic Political Thought‘ in London, Azzam al Tabibi (vor kurzem zu sehen in BBC’s ‚Hard Talk‘) umschrieb Qaradawis Bedeutung mit plastischen Wörtern: „Wenn man von Sheik Qaradawi spricht, dann spricht man von einem Publikum von hunderten von Millionen von Moslems in der ganzen Welt, von einem, der wirklich die öffentliche Meinung formt. … Wenn Sheik Qaradawi eine Fatwa ausspricht, dann wird diese Fatwa am nächsten Tag in hunderten von Orten rund um die Erde anerkannt.“ Qaradawi ist der Urheber von annähernd 150 Fatwas, und einige von diesen sind von spezieller Relevanz für Selbstmordsattentäter.
Selbstmord ist eigentlich streng verboten im Islam. Der Koran verspricht demjenigen, der Selbstmord begeht, eine ewige Existenz in der Hölle. Das Töten von Zivilisten ist im Islam auch streng verboten. In islamischen Theorien zur Rechtfertigung von Krieg findet man genau definierte Regeln, wann es akzeptabel ist, dass Krieg Zivilisten betrifft. Dies wird auf spezielle Situationen eingeschränkt, wo der Verlust von zivilen Leben eine notwendige, aber unerwünschte Konsequenz darstellt, um feindliche zivile Ziele zu treffen (z.B. Zivilisten in einer Stadt, die gestürmt wird). Daher kann man sich wirklich wundern, dass islamistische Organisationen wie Hamas oder Islamischer Jihad Selbstmordaktionen gegen zivile Juden organisieren und ausführen und auch noch behaupten, dass die Selbstmordattentäter eine besonders herrliche Belohnung im Paradies erhalten sollen. Um das Paradoxe an der Situation zu unterstreichen, will ich darauf hinweisen, dass diese Organisationen nicht von rabiaten Analphabeten betrieben werden, aber von hoch ausgebildeten Islamisten mit ideologischen wurzeln im traditionellen, muslimischen Gesetzesverständnis. Einer von den den Hauptarchitekten hinter genau dieser Ideologie der Selbstmordattentate ist sogar ein promovierter Rechtgelehrter der Al Azahr Universität (führende sunnimuslimische Lehranstalt, in Kairo), nämlich Qaradawi.
Qaradawi hat durch mehrere Fatwas alle erwachsenen Juden in Palästina als „Okkupanten“ und „Krieger“ definiert und sie damit zu legitimen Kriegszielen gemacht. Diese Fatwas behaupten, dass wenn Selbstmordattentäter sich bei der Ausführung ihrer Aktion selbst töten, dann gilt das nicht als Selbstmord, sondern als Opfer im heiligen Krieg und daher als ein Martyrium.
Der Grund, warum alle Erwachsenen Juden in Palätina als Krieger gelten, ist, dass alle Erwachsenen Israelis, sowohl Männer als auch Frauen, im Militär eingeschrieben sind und den Status von Reservisten haben, auch im zivilen Leben. Was jüdische Kinder angeht, präzisiert Qaradawi, gelten diese nicht als „Krieger“, aber dass es akzeptiert werden kann, dass einige jüdische Kinder getötet werden als Rache für arabische Kinder, die von Juden getötet wurden. Es muss gleichzeitig präzisiert werden, dass Qaradawi die Tötung und Verfolgung von Juden verdammt, die nicht an der „Okkupation Palästinas“ teilnehmen.
Wenn es zu der Bedeutung kommt, dass Juden „Palästina okkupiert“, muss das auf dem Hintergrund des islamischen Rechtsempfinden verstanden werden, nicht auf dem der UN. Mit „Palästina“ zielt Quaradawi auf das geografische Palästina, also das heutige Jordanien, West Bank, Israel und Gaza. Mit „Okkupation“ wird nicht nur auf die neuen Siedlungen auf dem Land, das Israel im Jahr 1967 okkupiert hat, gezielt, sondern auch auf dem Staat Israel selbst. All dieses Land gilt bei muslimischen Rechtsgelehrten als Okkupiert. Der Grund ist, dass dieses Land unter früherer islamischer Herrschaft stand und einem islamischen politischen Prinzip zufolge kann niemals eine nicht islamische politische Regierung auf solch einem Territorium errichtet werden. Die Situation ist also weitestgehend analog mit der die wir haben würden, wenn christliche Führer Selbstmordaktionen in der Türkei organisieren würden, um Istanbul zu befreien, das von der Christenheit in 1453 erobert wurde.
Qaradawis Fatwas haben auf entschiedene Weise und unter den Moslems aus aller Welt zu einer Art theologisch-politischer Legitimierung von Selbstmordsattentaten beigetragen. Zwei bedeutungsvolle Fatwas sind (1) „ Amaliyat Hamas Jihad Waqatalaha Shuhada” (Hamas Operationen sind Jihad und die die [in der Ausführung dessen] sterben gelten als Märtyrer) und (2) ”El-amalijat al-istishadiya a'zam suwar al-jihad” (Märtyreroperationen sin die höchste Form des Jihads). Und einen noch ausführlicheren Einblick der Ideologie der Selbstmordattentate kann man in voller Wiedergabe in einer von Qaradawis Fatwas, die man in der Londoner Zeitung Al-Sharq Al-Awsat, vom 19. juli 2003 findet und ausserdem in Konferenzberichten der Tagung vom European Council of Fatwa and Research in Dublin im September 2000. HonestThinking hat eine Quellensammlung mit Webreferenzen zu diesen Fatwas und mehr Stoff über Qaradawi usw. eingerichtet.
Zurück zu den heimischen Verhältnissen. Basim Ghozlan hat bei mehreren Gelegenheiten und in seiner Eigenschaft als Vorsteher des DIF, Qaradawi als einen der bedeutendsten islamischen Führer charakterisiert. In einem Artikel, der auf der Webseite des DIF zu finden ist, verwendet Ghozlan Qaradawis Rechtsauslegung als Quelle für theologisch-juristische Argumentation an. In einer Polemik mit Walid al-Kubaisi im Dagbladet (01.11) kann Ghozlan sogar berichten, dass der DIF eine Empfehlung von Qaradawi betreffend einen Moscheebau in Oslo erhalten hat. Ghozlan kann überhaupt nicht verstehen, dass etwas daran bedenklich ist, dass der Oslo-Imam Mehboub ur-Rhaman Mitglied bei The European Council for Fatwa and Research ist, eine Organisation, die auch von Qaradawi geführt wird. Dass Ghozlan auch Qaradawis Fatwa über palästinensische ‚Märtyreraktionen‘ in dieser wortwörtlichen Form anerkennt, ist eine naheliegende Annahme, die Ghozlan selbst schnellstmöglich be- oder entkräften sollte.
Das Erschreckendste an dem Fall Ghozlan ist in jedem Fall, dass ein norwegischer, muslimischer Führer sich in die Reihe der muslimischen Führer in der Welt einreiht, die moralische Unterstützung und religöse Legitimation dafür geben, dass Palästinenser sich selbst und zivile Juden in die Luft sprengen, alles mit dem Zweck, Jerusalem und Israel von „zionistischer Okkupation“ zu befreien. Gleichzeitig sollte man bemerken, dass im Islamischen Rat Norwegens, eine Schirmorganisation für 25 norwegische, muslimische Mitgliedsorganisationen, keine von denen Abstand von Ghozlans Aussagen nimmt. Dadurch entsteht eine sehr schwierige Situation, die norwegische Politiker vor ein grosses Dilemma, das die Grenzen der Religions- und Äusserungsfreiheit stellt. Der Justizminister Odd Einar Doerum trägt eine besondere Verantwortlichkeit in dieser Sache und es wird spannend sein zu sehen, wie in Zukunft sein Einsatz eingeschätzt werden wird.
Ghozlans Unterstützung von Selbstmordattentätern ist nicht nur eine Warnung und eine kraftvolle Erinnerung an die grosse Problemstellung, die daran angeknüpft ist, wie wir in Norwegen in einer rasch wachsenden, moslemischen Bevölkerungsminderheit islamistische Elemente hantieren sollen. Vorläufig kann dieses Problem frei diskutiert werden und demokratisch hantiert werden. In der Zwischenzeit sehen wir, dass die Debatte um diese Dinge oft von einer Furcht vor Stigmatisierung gequält wird, weil es immer noch politisch unkorrekt ist, sich dem Islam kritisch gegenüber zu stellen. Damit wird die Entfaltung einer entscheidenden demokratischen Funktion, der öffentlichen, erleuchteten Debatte, begrenzt. Gleichzeitig brauchen wir eine Islamdebatte, die offen und respektvoll ist, und die unabhängig von religiöser und politischer Zugehörigkeit geführt wird. Von dieser Debatte, wenn sie denn kommt, können wir sicher keine einfachen Antworten erwarten, aber wir kommen den Lösungen in jedem Fall nicht näher dadurch, dass wir das Problem totschweigen.
Von Jens Tomas Anfindsen, Redakteur HonestThinking.org